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5. Theodor Waigel (CSU), ehemaliger Finanzminister 1989

Hier muss man schon historisch werden, weil die Rechtsverhältnisse 1989 ganz anders waren vor der Vereinigung. Darüber hinaus wurde diese Rede nicht irgendwo, sondern beim Schlesiertreffen gehalten.

Man muss wissen, dass auf der Potsdamer Konferenz 1945 die Territorialverschiebung Polens akzeptiert wurde. Ehemalige ostdeutsche Gebiete fielen unter polnischer Verwaltung, ostpolnische Gebiete fielen an die damalige Sowjetunion. Es kam zu Vertreibungen, Millionen Deutsche aus dem polnischen Teil siedelten sich zwangsweise in Deutschland an. Der offizielle Verband der Heimatvertriebenen hatte sich lange Zeit nicht mit den Gebietsabtretungen abgefunden.

Die DDR hatte 1950 die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens akzeptiert (sg. "Görlitzer Abkommen"), die Bundesrepublik im Rahmen des Warschauer Vertrages 1970. Allerdings war dieser Vertrag nur bindend, solange die Teile Deutschlands nicht (wieder)vereinigt waren. Mit anderen Worten: Der Warschauer Vertrag war völkerrechtlich nicht bindend für ein Gesamtdeutschland. Gerade die Schlesier beharrten lange darauf, etwaige Gebietsansprüche nicht aufzugeben.

Hier die Sequenz aus dem Ausgangsvideo:

 

Quelle: Youtube, Link eingesehen am 26. 11. 2015

Hier ist der historische Kontext zu beachten. An dieser Stelle macht es keinen Sinn, einen längeren Ausschnitt aus der Rede zu präsentieren. Stattdessen möchte ich Wolfgang Schäuble noch einmal zu Wort kommen lassen. Er hielt eine Rede vor dem Schlesiertreffen 1995, also fünf Jahre nach der Vereinigung. Aufzeigen möchte ich hiermit, dass man selbst dann noch die Gebietsabtretung nicht akzeptierte, was für das Verständnis meiner Ausführungen von Belang ist.

Hier also Wolfgang Schäuble 1995 beim Schlesiertreffen:

 

 

Quelle: Youtube, Link eingesehen am 29. 11. 2015, es handelt sich um einen Ausschnitt aus der ARD-Tagesschau

Schon allein der Kontext "Schlesiertreffen" zeigt, wie Aussagen über die Souveränität Deutschlands zu interpretieren sind, wie wichtig es ist, den Ort und den historischen Zusammenhang zu berücksichtigen.

Nun aber zurück ins Jahr 1989 und der Aussage Theo Waigels:

"Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 ist das Deutsche Reich nicht untergegangen. Es gibt keinen völkerrechtlich wirksamen Akt, durch die die östlichen Teile des Deutschen Reiches von diesem abgetrennt worden sind."

Soweit das Zitat Theo Waigels am 2. Juli 1989. Ausgerechnet kurz vor dem 50jährigen Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1989 und damit des Beginns des Zweiten Weltkriegs stellte Waigel die territoriale Integrität Polens in Frage. Kurz vor dem 50. Jahrestag für Polen (und auch für andere) ein Affront, formaljuristisch und völkerrechtlich aber korrekt.

Hier der etwas ausführlichere Kontext der Rede:

"Wir stehen ohne Wenn und Aber zu unseren Vertriebenen, zu ihren Landsmannschaften. Wir lassen sie nicht diskriminieren, wie das da und dort immer wieder versucht wird. Und zur deutschen Frage gehören auch die ostdeutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße.

Und ich wiederhole, was alle meine Vorredner hier gesagt haben: Unser politisches Ziel bleibt die Herstellung der staatlichen Einheit des deutschen Volkes in freier Selbstbestimmung. Und wir in der Christlich Sozialen Union ‐ auf Bayern beschränkt, aber mit bundesweiter Verantwortung und europäischer Dimension ‐, wir waren uns unserer gesamtdeutschen Verantwortung stets bewußt und wir haben sie in einer entscheidenden Stunde auch wahrgenommen:

Mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag haben die bayerische Staatsregierung und die CSU (...) in besonderer Weise nationale Grundsatztreue und ihre deutschlandpolitische Verantwortung unter Beweis gestellt. Mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1973, 1975 und 1987 wurde allen Bestrebungen ein Riegel vorgeschoben, die darauf aus waren, aus dem Grundlagenvertrag einen Teilungs- und Anerkennungsvertrag werden zu lassen.


Und das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungspolitischen und die verfassungsrechtlichen Tatbestände für alle bindend festgeschrieben, wonach das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 rechtlich fortbesteht, die Vier Mächte weiterhin Verantwortung für Gesamtdeutschland tragen und es nur eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit gibt, die zugleich die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist.


Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 ist das Deutsche Reich nicht untergegangen. Es gibt keinen völkerrechtlich wirksamen Akt, durch den die östlichen Teile des Deutschen Reiches von diesem abgetrennt worden sind. Und meine Damen und Herren, was ich hier sage und vortrage, steht nicht im Grundsatzprogramm einer Partei, nein, es ist gültiges Verfassungsrecht, vom Verfassungsgericht festgestellt und entspricht dem Völkerrecht. Und niemand darf dies bestreiten, niemand kann dies in Frage stellen, es ist deutsches, festgestelltes Verfassungsrecht und jeder ist gehalten, sich auf diesem Boden politisch zu bewegen.


Solange es keinen Friedensvertrag gibt, bleibt die deutsche Frage rechtlich, politisch und geschichtlich offen und kann erst dann entschieden werden, wenn das deutsche Volk sein Selbstbestimmungsrecht frei auszuüben in der Lage ist. Wer die Forderung nach Streichung des Wiedervereinigungsgebotes aus der Präambel unseres Grundgesetzes aufstellt, hat sich in beschämender Weise aus der Gemeinsamkeit der nationalen Verantwortung verabschiedet. Er leugnet damit nationale Verantwortung und ist bereit, unsere Landsleute in den anderen Teilen Deutschlands ihrem Schicksal zu überlassen.

Mit uns wird es eine Änderung des Grundgesetzes und der Präambel in dieser Frage nicht geben. Das Heimat- und Selbstbestimmungsrecht sind anerkannte Grundsätze des Völkerrechts und gelten für alle Völker und Volksgruppen, auch für die Deutschen! Das Recht auf Heimat und Selbstbestimmung ist unveräußerlich und kann auch durch Verbrechen, die in deutschem Namen verübt wurden, nicht verwirkt werden. Unsere Freunde im Westen haben sich auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands verpflichtet, wie dies im Deutschlandvertrag und in dem vom NATO‐Rat 1967 angenommenen Harmel-Bericht zum Ausdruck kommt. Beim NATO‐Gipfel am 29. und 30. Mai 1989 in Brüssel haben sich die Staats- und Regierungschefs der NATO‐Staaten erneut verpflichtet, einen Zustand des Friedens in Europa anzustreben, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Wir danken unseren Bündnispartnern für dieses klare Wort."

Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/1989, online zuletzt eingesehen am 29. 11. 2015, Hervorhebung von mir, diese Passage kennzeichnet die des Ausgangsvideos.

Schon damals erntete Waigel Kritik für seine Worte. Der damalige Kanzler Helmut Kohl hatte wahrscheinlich schon die Zeichen des Umbruchs erkannt.

Kurz etwas zum Friedensvertrag:

Damals im geteilten Deutschland war die völkerrechtliche Lage eine andere, denn egal welchen Vertrag die Bundesreprublik hätte abgeschlossen, dieser hätte keine Bestandskraft für die DDR bzw. für ein Gesamtdeutschland. Ein Friedensvertrag ist aber generell völkerrechtlich nicht erforderlich. Ausführlicher gehe ich im Abschnitt über Xavier Naidoo hierauf ein.

Mit anderen Worten: Da man damals nicht wußte, wie eine Wiedervereinigung aussehen könnte, erst recht nicht im Hinblick auf die in Polen gelegenen Ostgebiete, ist Waigels Forderung nach einer friedensvertraglichen Regelung nachvollziehbar. Aber völkerrechtlich ist zwischen ehemals kriegführenden Staaten kein Friedensvertrag zwingend erforderlich.

Waigel hielt diese Rede am 2. Juli 1989. Am 11. Juli 1989 zählte Helmut Kohl in einer Erklärung die rechtlichen Aspekte auf, sagte aber auch:

Die Freiheitsinteressen des polnischen und deutschen Volkes lassen sich nicht auseinanderdividieren. Der gegenwärtige politische und gesellschaftliche Wandel in Staaten des Warschauer Paktes eröffnet die historische Chance zur Verwirklichung der Menschenrechte für all jene Europäer, denen sie in den vergangenen Jahrzehnten verweigert wurden ‐ und damit auch für alle Deutschen. Die Bundesregierung ist fest entschlossen, diese Chance zu nutzen. Unser Ziel bleibt ‐ wie Konrad Adenauer es einmal ausgedrückt hat ‐: In einem freien und geeinten Europa ein freies und geeintes Deutschland. Die Darlegung der staats‐ und völkerrechtlichen Lage und das Bemühen um eine Politik der Verständigung mit Polen dürfen nicht in einen künstlichen Gegensatz zueinander gebracht werden. Vor dem Hintergrund der bitteren historischen Erfahrungen von Deutschen und Polen liegt es im Interesse beider Völker, daß Frieden und Recht eine unauflösliche Einheit bilden."

Quelle: ebd.

Die Aussagen Waigels am 2. Juli 1989 sind vollkommen korrekt. Die Anerkennung der polnischen Grenze ist nicht verbindlich gewesen für ein damals noch nicht existierendes vereinigtes Gesamtdeutschland. Auch gab es diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, in denen klar formuliert wurde, dass das Deutsche Reich weiterhin existiere.

Juristische Grundlage hierfür sind die 4-Mächte-Erklärung der Alliierten Streitkräfte vom 5. Juni 1945 und die Präambel des Grundgesetzes sowie einige Artikel des Grundgesetzes selbst.

In der Vier-Mächte-Erklärung heißt es u. a.:

"Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und die Provisorische Regierung der Französischen Republik werden später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, festlegen."

Quelle: Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und durch die Provisorische Regierung der Französischen Republik (05.06.1945), in: documentArchiv.de [Hrsg.], eingesehen am 29. 11. 2015

Ausdrücklich ist nicht von einer Annexion die Rede! Die Grenzen von 1937 wurden in einer weiteren Erklärung festgelegt.

Dort heißt es:

1. Deutschland wird innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt, von denen eine jeder der vier Mächte wie folgt zugeteilt wird:
eine östliche Zone der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken;
eine nordwestliche Zone dem Vereinigten Königreich; eine südwestliche Zone den Vereinigten Staaten von Amerika; eine westliche Zone Frankreich.

Die Besatzungstruppen in jeder Zone unterstehen einem von der verantwortlichen Macht bestimmten Oberbefehlshaber. Jede der vier Mächte darf nach ihrem Ermessen in die unter dem Befehl ihres Oberbefehlshabers stehenden Besatzungstruppen Hilfsverbände aus den Streitkräften irgendeiner anderen alliierten Macht, welche an den militärischen Operationen gegen Deutschland aktiv beteiligt war, aufnehmen.

2. Das Gebiet von Groß-Berlin wird von Truppen einer jeden der vier Mächte besetzt. Zwecks gemeinsamer Leitung der Verwaltung dieses Gebietes wird eine interalliierte Behörde (russisch: Komendatura) errichtet, welche aus vier von den entsprechenden Oberbefehlshabern ernannten Kommandaten besteht.

Quelle: Feststellung seitens der Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken sowie der Provisorischen Regierung der Französischen Republik über die Besatzungszonen in Deutschland (05.06.1945), in: documentArchiv.de [Hrsg.], online eingesehen am 29. 11. 2015

Gerade die Ostpolitik Willy Brandts wurde sehr kontrovers diskutiert, natürlich kam es auch zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Über die Oder-Neiße-Linie wurde wie folgt entschieden:

1. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße sind ebenso wie das übrige Reichsgebiet in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 von den Siegermächten bei Kriegsende nicht annektiert worden. Im Vorspruch der "Erklärung" vom 5. Juni 1945, welche die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie die provisorische Regierung der Französischen Republik "in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" abgegeben haben, heißt es: "Die Übernahme ... der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands" (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1 S. 7).

[...]

Die vorstehend beschriebene Entwicklung [meint Enteignungen, Änderungen der Staatsangehörigkeit u. a. Maßnahmen in Polen und der Sowjetunion, T. B.] ist dadurch gekennzeichnet, daß einseitige Maßnahmen der Sowjetunion und Polens, die in die rechtlichen Verhältnisse und in das menschliche Schicksal vieler Deutscher tief eingriffen, von der Bundesrepublik Deutschland lediglich hingenommen werden mußten, ohne daß es ihr möglich gewesen wäre, den eigenen Rechtsvorstellungen bei der Behandlung der betroffenen Menschen Geltung zu verschaffen.

[...]

Dieser politisch-geschichtliche Hintergrund und dieses Ziel der Verträge ist für ihre Auslegung bestimmend.

[...]

Die in den polnischen Gebieten lebenden Beschwerdeführer zu 5) bis 7) meinen, ihre deutsche Staatsangehörigkeit dadurch verloren zu haben, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität, also sowohl der territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt worden seien. Diese Wirkung kann jedoch den Verträgen nicht beigemessen werden.

Bereits der Wortlaut der Verträge spricht gegen die Annahme, sie könnten zu einer Änderung der Staatsangehörigkeit in den Gebieten östlich von Oder und Neiße lebender Deutscher geführt haben; denn weder der Moskauer noch der Warschauer Vertrag enthält eine Bestimmung, die sich auf Fragen der Staatsangehörigkeit bezieht. Auch aus den in beiden Verträgen enthaltenen Grenzregelungen kann hierfür nichts entnommen werden.

Die Grenzregelung in Art. 3 des Moskauer Vertrages bezieht sich auf die territoriale Integrität und die gegenwärtigen Grenzen aller Staaten in Europa einschließlich der dort als Westgrenze Polens bezeichneten Oder-Neiße-Linie, während die Grenzregelung nach Art. I des Warschauer Vertrages nur die Grenzen Polens und der Bundesrepublik Deutschland betrifft.

Nach Auffassung der Bundesregierung handelt es sich bei diesen Grenzregelungen um eine Konkretisierung des Gewaltverzichts. Von den Vertragspartnern werde daher nur das Unterlassen von Maßnahmen geschuldet, die auf eine gewaltsame Veränderung der in den Verträgen bezeichneten Grenzen gerichtet seien. Hierzu weist die Bundesregierung auf die besondere politische Natur der Verträge hin, die es ausschließe, über die in den Verträgen begründeten Verhaltenspflichten der beteiligten Staaten hinaus Rechtswirkungen für Einzelne anzunehmen.

Quelle:  BVerfGE 40, 141

Halten wir fest, dass die ratifizierten Verträge nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Grenzverlauf nicht als endgültig betrachten, lediglich der Gewaltverzicht wurde konkretisiert.

In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich. Sie betrifft den Grundlagenvertrag von 1972 mit der DDR:

Das Grundgesetz - nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! - geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 (277); 3, 288 (319 f.); 5, 85 (126); 6, 309 (336, 363)), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt "verankert" (BVerfGE 2, 266 (277)). Verantwortung für "Deutschland als Ganzes" tragen - auch - die vier Mächte (BVerfGE 1, 351 (362 f., 367)). Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert (vgl. Carlo Schmid in der 6. Sitzung des Parlamentarischen Rates - StenBer. S. 70). Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht "Rechtsnachfolger" des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat "Deutsches Reich", - in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings "teilidentisch", so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Bundesrepublik umfaßt also, was ihr Staatsvolk und ihr Staatsgebiet anlangt, nicht das ganze Deutschland, unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts "Deutschland" (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet "Deutschland" (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt. Sie beschränkt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den "Geltungsbereich des Grundgesetzes" (vgl. BVerfGE 3, 288 (319 f.); 6, 309 (338, 363)), fühlt sich aber auch verantwortlich für das ganze Deutschland (vgl. Präambel des Grundgesetzes). Derzeit besteht die Bundesrepublik aus den in Art. 23 GG genannten Ländern.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 31. Juli 1973. Hervorhebung von mir.

Fazit: Die Nachkriegsgeschichte ist die Ursache dafür, dass formal das Deutsche Reich zunächst weiterhin existierte, die Grenzfrage mit Polen noch nicht endgültig betrachtet werden konnte.

Im eben zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wird auch auf Carlo Schmid verwiesen. Bei dieser Rede, gehalten am 8. September 1948, handelt es sich um den letzten Protagonisten, den die sg. "Reichsbürger" hier anführen.